29
Apr
2016

In Stalins Land

2

Jonas schläft noch einmal ein und besucht den lieben Gott, der über den Wolken wohnt. Er ist schon über zwei Jahre alt, aber der liebe Gott ist älter als tausend Jahre. Tausend und tausend mal so alt. Und er hat die Welt erschaffen.
Ben wird bald zur Schule kommen und dann ist Jonas der einzige der Kinder, der zu Hause bleiben muss. Die Mutti hat Ben zum Kindergarten gebracht, und die Großen sind in der Schule.
Jonas solle ein wenig schlafen, hatte die Mutti gesagt. Sie hatte ihn aufs Töpfchen gesetzt und ihn gelobt, weil er in der Nacht nicht eingepullert hatte. Der Papa verkauft unten im Laden und alles still ringsum ist verzaubert vom lieben Gott.
Bens Bett steht auf der anderen Seite des Fensters neben dem Klavier.
Vorhin war noch so Trubel, als die Großen aufgestanden sind, der Papa hatte den Ladenschlüssel gesucht wie jeden Morgen, die Mutti hatte Ben angezogen, weil er immer so trödelt, und Ben hatte ihm die Zunge raus gestreckt.
Die große Maja hatte ihm über den Kopf gestreichelt.
„Du hast es gut, du brauchst nicht zur Schule.“
Maja hat immer so eine harte Hand, Jonas mag sie nicht. Sie ist Papas Liebling. Mutti sagte einmal:
„Sie ist sein ganzer Stolz, die beste Schülerin in der Klasse, sie bekommt nur Einsen.“
Aber Mutti mag Maja auch nicht, das weiß Jonas schon lange.
Michael, der große Bruder ist immer still. Er ist nicht so gut in der Schule wie Maja und sollte bald abgehen, um einen Beruf zu lernen, hat neulich Papa zur Mutti gesagt, als sie im Bett lagen, Mutti und Papa nebenan in ihrem Bett reden immer so laut, Jonas hat alles in seinem Gitterbettchen gehört und über das Wort „abgehen“ nachgedacht. Michael wird immer verprügelt, wenn er ein Zeugnis nach Hause bringt. Darüber ist er so still geworden.
Wo soll denn Michael hingehen, wenn er nicht mehr zur Schule geht?
Michael ist fünf Jahre jünger als Maja, beide haben den Krieg noch erlebt, aber darüber reden sie nicht mit Jonas. Nur die Mutti hatte einmal gesagt:
„Wir waren auf der Flucht damals, kleiner Jonas, das war ganz hart.“
Aber am Sonntag will Michael ihn mit zu seinen Kaninchen nehmen, Jonas darf sie dann streicheln. Michael besitzt die Kaninchenställe hinter dem Hühnerstall und vor Opas Garten. Das ist seine Zwischenwelt, hatte er mal zu Jonas gesagt und gelacht, ganz glücklich war er, nicht so geduckt wie sonst, wenn der Papa schimpft mit ihm.
Allein darf Jonas nicht zu den Kaninchen, er darf auch nicht in Opas Garten. Es gibt so vieles, was er nicht darf.

Und darüber ist er eingeschlafen, er hatte eine Taube auf dem Dach nebenan gesehen, die war da lang spaziert und hatte zu ihm ins Fenster geguckt. Alle waren schon fort, er war ganz allein, der Himmel war wie Milch als wäre sie mitten in Wolken, ja als würden sie schwimmen darin.
Jonas hatte dran gedacht, dass der liebe Gott manchmal in Gestalt einer Taube die Erde besuchen kommt, das hatte ihm der Opa beim Kaffee trinken erzählt. Und wenn man Gott treffen will, muss man die Hände falten wie alle es taten, bevor sie der Omas Kuchen anbissen, und sie hatten alle Gott für das tägliche Brot gedankt.
Und weil Jonas so allein ist und die Taube sieht, schließt er die Augen und faltet die Hände über der Brust, um den lieben Gott zu besuchen. Er setzt sich auf die Taube und flog fort bis über die Wolken - und schlief ein.

„Das gibt es nicht!“ Die Stimme Papas holt ihn in die Welt zurück.
Es ist aber so hell ist, da hat Jonas keine Angst, die Helligkeit nimmt er sogar durch die geschlossenen Augen wahr, die er jetzt öffnet, er sieht Papas Gesicht und Muttis Gesicht und das Gesicht von Frau Rolle, die auch im Laden verkauft. Alle drei haben sich über sein Gitterbettchen gebeugt und Jonas hat seine Hände immer noch gefaltet, weil er doch den lieben Gott besuchen wollte, das ist ihm nicht gelungen.
Die drei Gesichter lachen, Mutti und Frau Rolle anders als der Papa, der freut sich richtig.
„Der Kleine hat gebetet und ist eingeschlafen.“
Jonas lächelt etwas verschämt und faltet seine Finger auseinander.
„Es ist ihm peinlich“, flüstert Papa ganz gerührt und hebt ihn hoch, die Frauen lachen.
„Der Süsse“, ruft Papa und drückt ihn an sein Gesicht und pustet durch das Nachthemd auf seinen nackten Bauch, dass Jonas juchzen muss und wie verrückt mit den Füßchen strampelt.
„Mein Scholli.“
Von diesem Tag an ist nicht mehr Maja das Lieblingskind des Papa, und der Papa ist der einzige, der „Scholli“ zu ihm sagt.
(Jahre später, da ist Jonas schon größer, aus der Pubertät erwachend, stirbt der Papa und große Bruder Michael beginnt ihn auch „Scholli“ zu nennen, als wolle er ein väterliches Erbe antreten.)

Als der alte Jonas am Morgen aufstand, entdeckte er zwei getippte Seiten neben der Schreibmaschine. Er überflog sie und stutzte. Habe er das in der Nacht geschrieben? Und legte die Seiten in eine Schublade.
Und ging ins Bad.
Es sollte ein schöner Frühsommertag werden, das Wetter wirkte so beständig und zuverlässig wie ein Versprechen, früher hätte Jonas gesagt, wie ein Versprechen Gottes, doch die Zeiten der naiven und tiefen Religiosität eines kleines Kindes sind längst vergangen. Allerdings wenn er das geschrieben habe, was heute früh neben der Schreibmaschine zu lesen war, dann ist es ein Zeichen, dass tief in ihm drin immer noch eine christliche Prägung ist, die sich in Träumen bemerkbar macht wie alte Wunden als Narben sichtbar bleiben. Heute würde er bei Verstand und nicht träumend eher den griechischen Gott Apollo loben, der ein Versprechen auf einen schönen Tag gibt, als den Gott des Frühlings. Erkenne dich selbst.
Nach dem Frühstück ging er in den Garten, die Tür zur Wohnung ließ er weit offen, die Katze Bonjuk lief schnuppernd heraus, er wird sie den ganzen Tag nicht mehr sehen, der Winter ist endgültig vorbei. Was für ein wundervoller Tag für eine Katze im Garten...
Seinen Kaffee trank er am Wasser.
Die Sonne funkelte auf den Wellen und einige Sportboote zogen vorüber wie heitere Gedanken, „die uns nicht weiter beschweren“.
Am Wasser befindet sich eine kleine Ecke unter einer Weide, windgeschützt und voller Frieden.
„Wie oft saßen wir hier als wir eine Familie waren, früher meine erste Frau mit der Tochter, bis vor sieben Jahren meine zweite Frau... seitdem bin ich allein.“
Jonas sah sich um, es musste hier gar nicht viel getan werden, die Holzbänke, der Tisch waren zeitlos gediegen.
Er wusste, dass Wellen am Ufer leise schmatzten, wenn sie aufliefen.
Er wusste es aus seiner Erinnerung, aber er konnte es heute nicht mehr erfahren, solche feinen Geräusche hörte er schon lange nicht mehr, nicht einmal das Schnattern der Enten, seine Schwerhörigkeit war inzwischen weit fort geschritten, doch in der Erinnerung waren all diese Geräusche noch da... wie der Gesang der Vögel und das leise Raunen des Windes. Jonas war ohne Geräte taub wie Beethoven.
Die Zigarre schmeckte ihm gut, die Luft war frisch, aber nicht kalt.
Ein Ausflugsdampfer zog vorbei. Einige wenige Menschen saßen auf dem Deck in Liegestühlen und hielten lächelnd das Gesicht in die Sonne bei geschlossenen Augen.
Er könnte heute Nachmittag hier die Bänke und den Tisch streichen, überlegte der alte Jonas. Den Platz sollten auch die neuen Mieter nutzen können.
In ihm war ein gespaltenes Gefühl. Wer blind wird, verliert den Kontakt zu den Dingen, wer taub wird, den zu den Menschen, heißt es. Das konnte er bestätigen. Vor sieben Jahren war seine zweite Frau verstorben, unabhängig davon hatte seine Schwerhörigkeit Ausmaße erreicht, die jedes Gespräch mit anderen zu einer großen Anstrengung auch für seinen Gegenüber machten. Er verstand oft nur die Hälfte und dann natürlich auch noch falsch. Das führte zu Missverständnissen, ja Ärgernissen. Natürlich tat die Trauer das ihre dazu, dass er sich isolierte, zurückzog, und damals empfand er das Internet als einen Segen für sich.
Er konnte in Chaträumen schriftlich kommunizieren und niemand bemerkte seine Schwerhörigkeit. Bald genügte ihm diese Art der Kommunikation nicht mehr, er entdeckte das Vergnügen erfundene Geschichten zu schreiben, die wenn sie gelingen mehr als die einfache Wahrheit sind. Vor zehn Jahren und mehr herrschte im Internet eine sehr fröhliche und freundliche Kommunikation vor.
„Aber im realen Leben zog ich mich von Menschen zurück. Ich kaufte mir gute Höranlagen für Rundfunk und Fernsehen und hatte auch durch das Internet das Ohr an der Zeit, wie es so schön heißt. Es war jedoch nur ein Ersatz, in den letzten zwei oder drei Jahren wuchs meine Desillusionierung, und ich erkannte wie der klare See des Internets sich von Jahr zu Jahr in einen Dreckstümpel verwandelte. Missgunst, Neid, anonymer Hass überschwemmte dieses Medium dermaßen, das es mich anwiderte.“

Sein gespaltenes Gefühl entstand, als seine Tochter vor einiger Zeit am Telefon, er besitzt ein extra lautes, erfuhr, es war zur Weihnachten, dass in der Nachbarschaft eine Wohnung ausgebrannt war, und er noch nicht einmal die Feuerwehrsirenen gehört. Alle Bürger wurden des Nachts aufgefordert aus Sicherheitsgründen ihre Häuser zu verlassen und auf die Straße zu gehen.
Er hatte selig durchgeschlafen.
Seine Tochter kommentierte aus London:
„Du hättest verbrennen können, Papa!“
Jonas entgegnete lachend:
„Es ist ja alles gut gegangen, Kind.“

Schon einen Monat später meldete sie sich mit einem Vorschlag, der ihn tagelang beschäftigte.
Ihre Zahnärztin ist eine junge Frau noch, deren Eltern aus Irak einst vor mehr als zwanzig Jahren eingewandert waren, die also schon als Kind in London lebte, zur Schule ging und studierte, sie besaß die britische Staatsangehörigkeit und beherrsche auch die deutsche Sprache. Sie wolle noch Berlin ziehen, hätten einen entfernten Cousin aus Bagdad geheiratet, der Lehrer sei und leidlich deutsch spreche.
Sie könne in Berlin die Praxis eines alten Zahnarztes übernehmen und suche eine Wohnung. Die beiden haben eine siebenjährige Tochter.
Seine Tochter konnte sehr hartnäckig sein. Jonas hörte aus ihrer Argumentation durchaus die besorgte Liebe einer Tochter für ihren alten Vater heraus.
Einmal sagte er:
„Meine Tochter ist meine Achillesferse.“ Und lächelte dabei.
Das war einfach zu verstehen: Gezwungen einsam zu sein, stellt sich bald beim Menschen so ein Trotzgefühl ein, so ein „Man muss mich nicht lieben.“ Nur beim eigenen Kind versagt das jedenfalls bei Jonas.
Er hörte ihr zu, obwohl das Hören ihm doch so schwerfiel.

Sieben Jahre sind auch im Leben eines Menschen eine lange Zeit. Er war nur fünf Jahre mit meiner zweiten Frau verheiratet, und heute erschien ihm die Zeit mit ihr wie ein dickes Buch voll mit wundervollen Erlebnissen, Gesprächen und Zärtlichkeiten, selbst mit dem Schönsten überhaupt, das man mit einem anderen Menschen erleben, das zugewandte zärtliche Schweigen.
Jetzt sieben Jahre danach empfand ich die Zeit danach als ein schmales Heftchen, dabei ist sie noch länger gewesen als die Jahre unserer Ehe , wenn man die Zeit physikalisch misst.
„Ich bin nicht unglücklich deswegen, alles hat seine Zeit, das steht schon in der Bibel.“ Auch das Lebensbuch eines jeden von uns allen hat scheinbar langweilige und scheinbar spannende Abschnitte, kurzweilige und sich streckende ohne Spannung. Alles ist notwendig, und er hadert nicht. Wenn er auch an kein höheres Wesen mehr glaube, dass alles für uns bereit hält, glaube er auf eine unerklärliche Weise daran, dass Seiten eines Lebensbuches schon geschrieben sind, bevor wir davon wissen.
Jeder Schritt in die angebliche Ungewissheit einer Zukunft macht uns bange, doch wenn wir wissen, dass die Zukunft schon bestimmt ist, wenn wir uns einen gewissen Fatalismus zu eigen machen, legt sich die Bangigkeit.

Er versuchte auf das Neue, das durch seine Tochter angeregt, da auf ihn zukommen soll, ohne Erwartung zu reagieren und die Trauer wegen des Abschieds vom siebenjährigen Schlaf, in dem er das Alleinsein lernte, abzulegen wie einen alten Mantel.

„Ja, meine Tochter hatte ja Recht, ich höre die Sirenen von Feuerwehr und Polizei nicht mehr, wenn die Hörgeräte draußen sind.“

Übers Internet hatten sie per Bildschirm telefoniert, und an einem Abend wenig später hatte sich auch die junge Zahnärztin vorgestellt. Sie zeigte eine lächelnde Ausstrahlung und Ruhe und war von außergewöhnlicher Schönheit.
„Wie heißen Sie?“ fragte Jonas.
„Charda“, antwortete sie, „und mit zweiten Namen Djamila.“
„Schreiben Sie mir das bitte auf“, bat er, „ich höre schlecht.“
„Ich weiß, Sie hören aber nicht schlecht, sie hören schwer.“
Und sie schrieb ihm die Namen in die Spalte unter dem Bild.
Seine Tochter neben ihr kicherte etwas.
„Wahrscheinlich dachte sie, dass ich manchmal schlecht hörte, anstatt schwer, aber das kommt auch vom schwer hören, oder.“
„Wie heißt ihr Mann?“ wollte er wissen.
„Samir“, sagte sie, „und unsere Tochter Fatima.“
Und sie schrieb auch diese beiden Namen auf.
Er sah ihr dabei zu und beobachtete eine gewisse respektvolle Art, die ihm gefiel.
Dann sagte er:
„Ich bin ein alter schwerhöriger Mann und lebe sehr zurückgezogen und habe mich an das Alleinsein gewöhnt.“
„Ja, ich weiß.“ Jetzt lächelte sie - und hatte ihn überzeugt.
„Die freie Wohnung hat drei Zimmer und ist leer geräumt und renoviert, Sie sind willkommen.“
„Oha“, sprach seine Tochter dazwischen, „mein Papa kann auch charmant sein.“
Die Irakerin lachte nicht.
Sie sah ihn ernst an.
„Wie heißen Sie?“ fragte sie.
„Jonas“, antwortete er, „Jonas Timm.“
„Jonas im Walfisch“, da lächelte sie.
Sie überlegte etwas.
„Wenn Sie es wünschen, werden wir so unauffällig neben ihnen leben, dass sie uns gar nicht bemerken.“
Jetzt lächelte er.
„Wie Geister aus dem Morgenland, woher wir doch alle stammen, wenn man es genau nimmt.“
Seine Tochter lachte schallend dazwischen.
„Mein Papa, der alte Philosoph.“
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