25
Apr
2016

Die vergessene Straße in einer großen Stadt

Die Straße kam ihm vertraut vor wie eine Erinnerung, als wäre sein Gehirn ein Bergwerk, und er hatte einen verschüttet geglaubten Stollen entdeckt. Er ging langsam und genoss die klare kalte Luft in tiefen Zügen.
Es war April, der fünfundsechzigste April seines Lebens.
Er ging planlos und seine Füße hatten ihn von allein hierher getragen wie man ein Buch wahllos aus einem Bücherregal zieht und beginnt darin zu lesen. Wort für Wort wird einem klar, dass man selbst einst eine Figur in diesem Roman war. Die Welt ist eine riesige Bibliothek mit Tausend und Abertausenden Büchren und jeder von uns ist eine Figur in einem Buch. Aber es sind Bücher ohne Happy End, manchmal verschwinden Figuren lautlos wie Gespenster und tauchen wie dieselben Gespenster zwischen zwei anderen Buchdeckeln wieder auf. Nur tragen die Gespenster immer wieder andere Masken. Im Innern bleibt man immer derselbe und ein Schauspieler in dieser Welt.
Und jede Seite ward vergessen und taucht wieder auf wie Landschaften im Traum, in denen man einst zu Hause war. Beim Lesen, beim Laufen, beim Atmen und Denken, er war verwundert und konnte immer noch staunen.
Wann war das, als er hier lebte? In dem fünfunddreißigsten April seines Lebens vielleicht.
Die Straße lag abseits von der großen Magistrale und hatte sich äußerlich total verändert. Aber genau genommen nur so, als wenn ein Mensch sich eine neue Frisur zugelegt hat. Dort scheint ein kleines Architekturbüro zu sein, war es nicht einst eine Kneipe? Der Tabakladen war einmal ein Fotoatelier, in das Menschen hinein gingen und nie wieder heraus kamen. Man konnte sie später als Fotografien im Schaufenster in seltsamen Verkleidungen betrachten...
Die klugen Leute wissen nichts über die Wahrheiten des Lebens, sie schwatzen als Hirnforscher oder Philosophen vom Ich, das zwischen Stammhirn, Zwischenhirn und Großhirn sich versteckt hat wie ein kleines Mädchen, das Blindekuh spielt. Ich denke, also bin ich, das ist doch nur ein Kratzen an der Oberfläche.
Seine Füße waren auch sein Ich, und sie hatten von allein ihren Weg hierher gefunden. Alles kam ihm vertraut vor und war doch gleichzeitig so fremd. Er war sich selbst nicht geheuer, als würde man ihn in eine verzauberte Welt geführt haben.
Gegenüber war ein Haus eingerüstet, sein Putz hatte eine seltsame Farbe, zwischen Pink und Braun. Er blieb stehen, und es durchfuhr ihn ein tiefer Schreck.
In diesem Haus hatte er einmal gewohnt und gelebt. Er hatte eine Frau und ein Kind gehabt. Ja, so war das. Gelacht, gestritten, gegessen und getrunken, geschlafen
Er hatte dort gefühlt, gedacht, geliebt und gehasst.
Die Räume waren doch bis in die letzte Kleinigkeit ihm vertraut gewesen. Ganz oben sah er den Balkon. Das kleine Geländer war noch sichtbar, das er einst montiert hatte, das die Frau, die mit ihm lebte, die Ranken von Blumen anbinden konnte. Abends im Sommer hatte er da gesessen, ein Bier zum Feierabend getrunken, und auf diese Straße geschaut, auf das Fotoatelier, das jetzt ein Tabakladen war.
Ja, es gab keinen Zweifel. Sie werden die hässliche Putzfarbe zwischen Pink und Braun entfernen, die letzte Spur seiner Erinnerung wird weichen, und vielleicht wird er beim nächsten Mal ein gelbes Haus nicht mehr wieder erkennen.
Wie viele Aprils gibt es denn noch?

Er blieb stehen, und der Schreck wich einem großen Staunen. Er wusste gar nicht mehr, warum er einst aus diesem Leben schritt in ein neues. Es gab wohl einen großen Streit.
Worum ging es denn? Er hat es vergessen.
Das Gerüst war durch riesige Planen verdeckt, unten an der Haustür war eine Lücke offen.

Eine alte Frau schritt heraus, grau und gebeugt im dunklen Mantel. Ihr gleichgültiger Blick streifte ihn, dann wandte sie sich nach links und lief in schnellen kurzen Schritten in Richtung der großen Straße.
Sofort war ihm klar geworden, dass diese Frau einmal seine Frau war, jung und strahlend. Er hatte Jahre mit ihr gelebt... sie hatte ihn nicht erkannt.
Etwas hilflos hob er den Arm der Forteilenden nach wie einen Gruß, zu spät.
Vielleicht wird sie in der nächsten Nacht von dem alten Mann träumen, der auf der anderen Seite der Straße stand und auf ihr Haus starrte.
Vielleicht wird sie sich im Schlaf an ihn erinnern. Waren sie glückliche Menschen oder litten sie aneinander Tag für Tag mehr?
Gingen sie durch ihre Wohnung wie Gespenster, die sich voreinander verstecken oder lachten und liebten sie sich?
Das alles ist heute nicht mehr wichtig zu beantworten. Nur er selbst ist immer noch da in diesem April. Und er hat die Fähigkeit alles neu zu erfinden.

Langsam und in Gedanken als tauche er durch die Tiefen eines Ozeans ging er weiter.
Schritt für Schritt.
An der Ecke befand sich ein Café.
Er trat ein, Nischen luden freundlich zum Sitzen ein, die Farben waren frisch in Beige, Braun und Orange...
Er setzte sich und eine junge Kellnerin erschien. Er bestellte einen Kaffee und einen Weinbrand.
„Kommt sofort“, sagte sie und überließ ihn seiner Versunkenheit.
Als sie servierte, fragte er, „war hier nicht einst eine Sparkasse?“
Sie lächelte.
„Ich weiß nicht“, antwortete sie, „ich bin erst ein Jahr hier, aber ich glaube, vorher war hier eine physiotherapeutische Praxis...“
Er lächelte auch. Als die Kellnerin gegangen war, bemerkte er am Nachbartisch eine Frau, die lachte. Er sah sie erstaunt an.
„Sind Sie auf Spurensuche?“ fragte sie und ihre Augen funkelten lustig.
„Kennen Sie sich hier aus?“ fragte er zurück.
Sie lud ihn mit einer Handbewegung, sich zu ihr zu setzen.
Er nahm seinen Kaffee und seinen Weinbrand und ging hinüber.
„Vielleicht“, sagte er, „vielleicht will ich mir selbst auf die Schliche kommen“, und er hatte das Gefühl, er betrat ein neues Buch, das er noch zu schreiben hatte...
„Sie werden einiges erfahren“, sagte die Frau und wurde ernst, „über das Sie sich wundern werden.“
„Jeder Mensch ist eine eigene Welt, doch wir sind neugierig aufeinander und kommunizieren miteinander.“
Zuhören, dachte er, als die Frau begann zu erzählen, einfach nur zuhören.
Das ist es.
manu ela rosa - 25. Apr, 11:04

so,

na danke für die Unterkunft, Manu :-) Wenn es mal wieder zu einem erotischen Roman kommt, ich bin dabei... dein herb.

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