27
Apr
2016

In Stalins Land

1

So, sie schien noch ganz gut zu funktionieren.
Er war überrascht und erfreut.
Eine Schreibmaschine war inzwischen eine seltene Maschine geworden. So selten wie ein einzelnes und freies Leben, so selten wie unabhängiges Denken. Jeder schrieb heutzutage auf eine Tastatur, die lautlos ist, und jeder schrieb in einen Computer hinein als wäre das sein zweites Gehirn, dem man blind vertrauen kann. Dabei hatte doch dieses zweite Hirn längst sein Fach in einer großen amerikanischen Überwachungsanstalt eingenommen, um besser kontrolliert zu sein. Wohlgemerkt geschah dies freiwillig, das erste Hirn hatte da nichts einzuwenden.
Und so schrieb man und schrieb und ließ sich überwachen.
Er meinte, auch diejenigen schrieben, die besser gar nichts schreiben sollten.

So nach und nach verschmelzen die Gehirne bis wir allesamt auf dieser Welt ein einziges Wesen sind. Und die Individualität wird so selten wie ein ein schöner und vollkommener Kristall in einem verschütteten Bergwerk. Wir waren und sind auf dem Weg dahin..
Aber der alte Jonas wollte deswegen nicht klagen und dachte so manches Mal an seine alte Großmutter, die über neue Moden in neuen Zeiten grundsätzlich murmelte, „wer weeß, wozu it gutt is.“

Im Alter entsteht ja des öfteren ein gewisser Fatalismus, auch Jonas kam es schon ab und zu in den Sinn, was habe ich eigentlich noch mit der Welt zu schaffen, der Welt der Computer und des Internets. Die gewisse Gleichmacherei, die einher geht mit einer Verflachung der Kultur ist doch an alte Menschen nicht eigentlich interessiert, welche sich anschicken die Welt mit ihren Moden zu verlassen.
Vielleicht hat aber das Alter auch eine gewisse Kraft entwickelt, immun zu sein, weil es nicht mehr beachtet wird. Das System spürt nicht die Gefahr, die vom Alter ausgehen könnte.
Lange Jahre beteiligte er sich am Internet und schrieb Geschichten, Artikel, Kommentare über den Computer hinein in das große gemeinsame Gehirn wie eine Ameise mit tausend anderen Ameisen Hälmchen für Hälmchen sammelt und zu einem großen Haufen bringt, auf den sich ein nackter Hintern besser nicht setzt.
Bei all dem Lärm, welche die Welt erzeugt, sollte man jedoch nie vergessen, dass die Sprache der Vernunft zwar leise ist, aber nie verstummt.

Einige erinnern sich an J.T.s Internetpräsenz, die er unter diesem Kürzel hatte. Es gibt welche, die schätzten ihn wegen seiner klaren Sprache, wegen seines unabhängigen Geists, der gar nicht so unbedingt darauf aus war, Anhänger zu bekommen. Obwohl er selbst gern Goethe zitierte, der anmerkte, dass ein jeder Mensch darauf aus ist, Anhänger zu gewinnen.
Aber das machte J.T. aus, wenn er dann gewissermaßen lächelnd zugab, vielleicht bin ich auch nicht ganz ehrlich zu mir selbst.
Nun er versuchte jedenfalls unbestechlich zu sein zu Es ging ihm nicht um Selbstdarstellung, sondern um Problembehandlungen, in denen er ja nur Vorschläge machte. Einige vermissten ihn wenigstens ein paar Wochen, aber nach ein paar Monaten war er vergessen. Er war für die Welt gestorben, jedoch in Wahrheit noch ganz da.

Sein Unbehagen wuchs von Jahr zu Jahr, von Monat zu Monat, das Internet erscheint ihm inzwischen wie ein furchtbarer Drachen, der in seinem unersättlichen Appetit jeden Morgen schon Jungfrauen verschlingt und abends Teufel ausspuckt. Oberflächlichkeit geht einher mit Hass und Dummheit, ein riesiger Ort für Kleinbürger, „bekomme ich nun im Alter von 65 Jahren im Jahre 2015 eine Ahnung wie einst der Faschismus entstanden sein mag.“ So weit ging er in seiner Einschätzung. Jonas Timm löschte von einem Tag auf den anderen alle seine Texte und seinen eigenen Blog im Internet.
Er machte sich unsichtbar.
„Damals als meine Eltern junge Leute waren in dieser Kleinstadt in der Uckermark, begann da nicht auch eine große Gleichmacherei, die des Faschismus der Deutschen überhaupt?“
Zehn Jahre nach dem Zusammenbruch dieses Höllenreichs würde er vielleicht im Alter von fünf Jahren seine Oma gefragt haben, „ist das zu irgendwas gut?“
Sie war eine ungebildete Zigeunerin, das war ein großes Geheimnis der Familie und hätte schallend gelacht,“kumm, min Jung, ick hav frisch Ziegenmilch for dich“, und er wäre schreiend davon gelaufen, raus über den Hühnerhof durch die gackernden Hennen und dem wütend krähenden Hahn über das Kopfsteinpflaster, hätte die alte Holztür aufgestoßen, vorbei an des Großvaters Werkstatt, den verwaisten Schweineställen über den Hof mit der Teppichstange, links die Plumpsklos, den Plattenweg hoch zwischen Waschküche und Ladenbüro des Vaters, die Tür zum Haupthaus aufstoßend, die knarrenden Treppen hinauf, geklingelt im Sturm bis die Mutti die Tür geöffnet hätte zum Wohnzimmer... „was ist denn, mein kleiner Jonas?“, hätte stammelnd geantwortet, „die Oma will, dass ich warme Ziegenmilch trinke.“
„Ach, die Oma, die weiß es nicht besser“, im Arm der Mutter wurde Jonas getröstet, „musst nicht trinken.“
Vielleicht hätte sie ihm einen Pudding gekocht mit frischer Kuhmilch, wer weiß, wer weiß...

Er war ja schon ein alter Mann und beschloss von einem Tag auf den anderen nicht mehr den Raum des Internets zu betreten.
„Zigeunerin“ sagt man nicht, es ist eine „Roma“ würde man mich heute im Internet der misslaunigen Besserwisser belehren, meine Oma hatte ja schon damals niemand offen selbst als eine der Roma bezeichnet, vom Großvater verborgen ist sie unbehelligt durch die Nazizeit gekommen.
Niemand sagt mehr „Zigeuner“ und niemand schreibt mehr auf einer Schreibmaschine, außer ein vergessener alter Mann.

Und da saß er nun vor einer Woche und schaute den dunklen Monitor an, die verwaiste Tastatur und verspürte so ein Sehnen, so ein Ziehen, eine unbefriedigte Sucht zu schreiben, aber wo, für wen und warum, das wusste er nicht. Er wusste nur, nicht der Abschied aus dem Internet war das Problem
„Nein, im Internet fühlte ich mich nicht mehr zu Hause, unmerklich war ich im Alter von einem Tag zum anderen ein Fossil geworden.“
Aber er wusste, das Vergessen seines Lebens war ein großes Problem, für ihn ein tragisches. Nein, er brauchte keine Anhänger, er brauchte ein Gespräch mit sich selbst, um über sich selbst klar zu werden.

Da neue Mieter einziehen wollten, denen er angeboten hatte, auch den Dachboden mit zu nutzen, begann er aufzuräumen und altes Mobiliar zusammen zu stellen für die Entsorgung. Eigentlich nur um sich abzulenken von diesem Sehnen, dem Ziehen und der Sucht, er hätte das alles auch der Entsorgungsfirma übertragen können.
Ganz in der Ecke entdeckte er zwischen all den Möbeln und Kisten die Schreibmaschine aus seines Vaters Ladenbüro, abgedeckt mit einer Lederhülle, tüchtig verstaubt, in einem Winkel versteckt wie ein kleines ängstliches Kind.
Sie funktionierte noch tadellos. „Ich hatte sie sorgfältig geputzt und frisch geölt wie man ein Baby wäscht und windelt.“
Schwarz glänzend stand sie da auf dem Schreibtisch, triumphierend wieder den Computer verdrängt und wartete geduldig auf die Nacht, in der Träume lebendig werden.
Wirklich, sollte das eine Antwort auf sein Sehnen sein?


Früher schrieben wenige auf eine Schreibmaschine, deren Druckrollen so Stück für Stück das Geschriebene nach oben rückten bis das fertig beschriebene Blatt ausgespuckt wurde von der Maschine. Die Maschine diente dem Schreibenden mit einem erst einmal erscheinenden Produkt, einem bedruckten Bogen weißen Papier mit vorzugsweise schwarzen Buchstaben, der schon einmal aussahen wie die Seite eines Buches.
Schön war das, richtig schön, obwohl dann die Mühen der Korrektur begannen, handschriftlich gekritzelt und gestrichen wurde, begann dann das erneute Abtippen und irgendwann strahlte das fertige Blatt triumphierend, endgültig vollendet.

Jonas brachte es als junger Mann auf bis zu einhundert Korrekturen. Das gab so manches lustiges Feuer im Kamin von den von voll kritzelten und immer neu korrigierten Seiten, aber zum Schluss stand da das fertige Blatt, zu rein, um noch verbrannt zu werden...
Generationen davor hatten mit dem Kugelschreiber geschrieben, mit dem Füllfederhalten und Zeiten zuvor schrieb man mit dem Gänsekiel.
Natürlich kenne auch er den Lauf der Zeit und weiß, dass man im Alter die Dinge und Gewohnheiten der Jugend höher schätzt, als sie es oft verdienen.
Aber hier gilt: es ist so wie es ist.
Er hatte offenbar schon geschrieben, als es noch keine Computer gab. Davon ist wohl nichts überliefert.

„Für mich ist es kein Vergnügen auf einer lautlosen Tastatur eines PC einzuprügeln und verzweifelt aufzuschreien, wenn bei einem versehentlichen Berühren einer Taste mit einem Code plötzlich sich Fenster auftun, Fußzeilen eingerichtet werden wollen, der Bildschirm sich halbiert, Absätze automatisch mit Einzügen und Aufzählungen aufgetan werden und ähnliches, das sich ein durchgeknallter Programmierer ausgedacht hat und noch unbedingt versteckt in der Tastatur unterbringen musste, ganz zu schweigen von der automatischen Wortfindung.
Wenn Goethe heute seine Zeile: „Über allen Gipfeln ist Ruh‘“ auf eine PC-Tastatur schreiben würde und sinnend zum Monitor aufblickte, fände er wahrscheinlich plötzlich ein Fenster quer über seine getippten Worte „Übersicht allermeist für Zipfelmützen finden sie in den Ruhemöbeln von Schulze & Co. - zum Sonderangebot klicken Sie auf Bauhaus Schlafmöbel 3. Etage“, da verginge dem Alten mit Sicherheit das Dichten.
Dieses „aber das habe ich doch gar nicht geschrieben“ zählt da nicht, wer solches von sich gibt ist nichts weiter als ein störrischer Alter.
„Es lebe das Maschinendenken und Tod dem menschlichen Gehirn. Aber ich verliere mich im nutzlosen Anrennen gegen Windmühlen.“
Das Blatt fand sich und ist wohl neueren Datums, als er zurückkehrte zur Schreibmaschine.

„Von Anfang war es die Sprache, die aus dem Menschen ein Wesen machte, dass allen anderen Tieren überlegen war. Erst kürzlich sah ich eine Dokumentation über die Entstehung des Menschen, seinen aufrechten Gang, den Beginn von Kultur, die Fähigkeit Werkzeuge herzustellen, Arbeit zielbewusst zu verrichten und bei all dem die Wichtigkeit der Sprache. Ein Forscher war der Ansicht, Sprache entstand aus einer Notwendigkeit heraus als die Waffen aufkamen.
Selbst der Stärkste einer Gruppe konnte des Nachts mit einem Stock, an dem vorn eine Steinspitze befestigt war, von dem Schwächsten im Schlaf getötet werden in der Höhle der sogenannten Höhlenmenschen. Es war eine Frage des Überlebens, welcher ein Freund war und welcher ein Feind. Dazu mussten die neuen Wesen miteinander kommunizieren.
Dieser Forscher behauptete, das wäre auch ein Grund von der Entstehung angeblich sinnlosen Geschwätzes, wie man es heute sehr verbreitet im Alltag wahrnehmen kann. Sinnloses Geschwätz macht dem Gegenüber klar, wie der andere wirklich denkt und fühlt, welche Ziele er eventuell haben kann, blättert gewissermaßen das Buch des Unbewussten eines Menschen auf.
Man braucht nur Frauen beim Gespräch zuhören, wenn sie sich über neue Frisuren austauschen oder Mode oder Männer. Und man braucht nur Männern zuhören, wenn sie über Politik reden, über Fußball oder Frauen.
Es ist in beiden Fällen sinnloses Geschwätz, und in diesen Fällen macht es den miteinander Sprechenden klar, ob sie es mit jemanden zu tun haben, der ihnen des Nachts ein Speer ins Herz rammen könnte oder der einen weckt, wenn Gefahren drohen.
Das ist der Sinn der Sprache. Bist du mein Freund oder mein Feind?
Wirst du mein Anhänger oder mein Gegner? So entstand das Reden, oft getarnt als sinnloses Geschwätz, abends in Höhlen beim Feuerschein.
Danach entstand Kultur, Kunst und auch Religion und die Schriftsprache, weil Menschen sich in immer höheren Ebenen verständigen wollten.
Irgendwann wurde die Druckkunst erfunden und irgendwann die Schreibmaschine.
Wenn man schreibt, möchte man Anhänger gewinnen mit denen man gar keinen realen Kontakt hat. Man gründet Sekten und Religionen, erfindet Ideologien und Philosophien, erzählt Geschichten und Romane, und lässt die Herzen fremder Menschen höher schlagen bei einem guten Gedicht über die Liebe.
Schriftrollen wurden abgeschrieben und weiter gereicht, Bücher wurden auf einmal gedruckt und verteilt, und irgendwann zur Ware.“

Der kleine Jonas versteckte sich vor mehr als sechzig Jahren in dem Gewimmel der Erwachsenen wie ein unsichtbarer Troll. Leise kichernd beobachtete er vom Büro durch die halb geöffnete Tür die schwatzenden Kunden, dazwischen der Papa und Frau Rolle, vorn an der Kasse die Mutti. Das ganze Büro war voll gestapelt mit Schuhkartons, heute Vormittag kam die Lieferung, die Kleinstadtbürger erschienen, ja selbst aus den Dörfern kamen Kunden, meist dicke Bäuerinnen mit roten Gesichtern, im Schuhhaus Timm ist Ware eingetroffen, sogar echte Lederschuhe sollen dabei sein. Seit dem Morgen stand die Schlange vor dem Laden, und der Papa strahlte und lief herum und bändigte das Chaos. Niemand bemerkte den kleinen Jonas. Zur Mittagspause wurde der Laden leerer, niemand kam mehr herein, Maja war zurück aus der Schule und bewachte die Eingangstür. Die Stimmen verebbten nach und nach, Mutti eilte vorbei ohne ihn zwischen den Kartons zu sehen, sie eilte nach oben, um Kohlgehacktes zu kochen, Jonas schlich sich zum Schreibtisch und kletterte auf den Stuhl, da stand die Schreibmaschine, und Blatt Papier war eingespannt, hier tippte immer der Papa die Abrechnungen.
Oh, Jonas drückte eine Taste und der schwarze Buchstabe sprang aus der Maschine aufs weiße Papier und der nächste und der nächste ... QWERTZUIOPÜASDFGHJKLÖÄYXCVBNM.
Jonas kicherte.
Irgend woher rief Mutti:
„Hat jemand Jonas gesehen?“
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Wollte der kleine Jonas schon Anhänger gewinnen?
Der Papa lachte, denn natürlich hat er ihn als erster entdeckt.
„Nun komm, irgendwann wird Scholli noch mal ein Dichter.“
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